Der längste Roman von Paul Auster

Die Welt ging in die Binsen, und die einzige Möglichkeit, nicht mit ihr in die Binsen zu gehen, bestand darin, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren – jeden Morgen sich aus dem Bett zu wälzen und loszulegen, ob die Sonne aufzugehen beschloss oder nicht.

Archie Ferguson hatte ein bedeutendes Experiment begonnen, geheime Ermittlungen zu den grundlegenden Dingen wie Leben und Tod, und jetzt gab es kein Zurück mehr, er befand sich auf einem riskanten abschüssigen Weg, allein zwischen schroffen Felsen auf gewundenen Bergpfaden, jederzeit in Gefahr, in den Abgrund zu stürzen, aber solange er nicht ausreichend Informationen gesammelt und daraus ein klares Bild gewonnen hatte, würde er sich dieser Gefahr weiterhin aussetzen müssen [...]
Die Frage lautete: Warum hatte Gott aufgehört, zu ihm zu sprechen? Und wenn Gott jetzt schwieg, hieß das, Er würde für immer schweigen, oder würde Er doch eines Tages wieder zu ihm sprechen? Und wenn Er nie wieder zu ihm sprach, wäre daraus zu schließen, dass Ferguson sich getäuscht hatte und Gott vorher gar nicht da gewesen war?
Seit er denken konnte, hatte die Stimme in seinem Kopf zu ihm gesprochen, immer wenn er allein war, eine leise, bedächtige Stimme, beruhigend und gebieterisch zugleich, ein tiefes Murmeln, das die Worte des großen unsichtbaren Weltenherrschers trug, und Ferguson hatte sich von der Stimme immer getröstet gefühlt, beschützt von dieser Stimme, die ihm sagte, solange er sich an seinen Teil der Abmachung halte, werde alles gut für ihn laufen, wobei sein Teil das Versprechen war, immer gut zu sein, stets freundlich und großzügig anderen gegenüber, die heiligen Gebote zu befolgen, soll heißen, nicht zu lügen, nicht zu stehlen, nicht dem Neid zu erliegen, soll heißen, seine Eltern zu lieben und in der Schule fleißig zu sein und keinen Ärger zu machen, und Ferguson glaubte an die Stimme und tat sein Bestes, ihren Anweisungen jederzeit zu folgen, und da Gott sich an Seinen Teil der Abmachung zu halten schien, indem Er ihm alle Steine aus dem Weg räumte, fühlte Ferguson sich geliebt, glücklich und behütet in dem Wissen, dass Gott an ihn genauso fest glaubte wie er an Gott. So ging das, bis er siebeneinhalb Jahre alt war, und dann eines Morgens Anfang November, eines Morgens, der sich nicht anders anfühlte als jeder andere Morgen, kam seine Mutter zu ihm ins Zimmer und sagte, sein Vater sei tot, und mit einem Schlag war alles anders. Gott hatte ihn angelogen. Dem großen Unsichtbaren war nicht mehr zu trauen, und obwohl Er in den folgenden Tagen weiter zu Ferguson sprach, ihn um eine neue Chance bat, Seine Existenz zu beweisen, den vaterlosen Jungen anflehte, in dieser dunklen Zeit des Todes und der Trauer bei Ihm zu bleiben, war Ferguson so wütend auf Ihn, dass er sich weigerte, Ihm zuzuhören. Vier Tage nach der Beerdigung war die Stimme plötzlich verstummt, und seit diesem Tag hatte sie sich nicht mehr gemeldet.
Das war jetzt die Herausforderung: dahinterzukommen, ob Gott in Seinem Schweigen noch bei ihm war oder ob Er sich für immer von ihm zurückgezogen hatte. Ferguson besaß nicht den Mut, absichtlich eine Grausamkeit zu begehen, er konnte sich nicht überwinden, zu lügen, zu betrügen oder zu stehlen, er hatte kein Verlangen, seiner Mutter weh zu tun oder sie zu kränken, trotzdem sah er keine andere Möglichkeit, eine Antwort auf die Frage zu finden, als innerhalb der schmalen Bandbreite von Missetaten, zu denen er fähig war, so oft wie nur irgend möglich gegen seinen Teil der Abmachung zu verstoßen, sich also über den Befehl, die heiligen Gebote zu befolgen, hinwegzusetzen und dann abzuwarten, ob Gott ihm etwas Schlechtes antat, etwas Böses, das ihn alleine traf und als deutliches Zeichen einer wohlbedachten Maßregelung gewertet werden konnte - ein gebrochener Arm, Eiterbeulen im Gesicht, ein tollwütiger Hund, der ihm ein Stück aus dem Bein biss. Wenn Gott ihn nicht bestrafte, wäre bewiesen, dass Er sich tatsächlich zurückgezogen hatte, als die Stimme verstummt war, und da Gott angeblich überall war, in jedem Baum und jedem Grashalm, in jedem Windstoß und jedem menschlichen Gefühl, wäre es unlogisch, dass Er von einem Ort verschwinden und trotzdem noch überall sein konnte. Da Er überall war, musste Er zwangsläufig auch bei Ferguson sein, und wenn Er nicht dort war, wo Ferguson zufällig gerade war, konnte das nur bedeuten, dass Er nirgendwo war und niemals irgendwo gewesen war, dass Er in Wahrheit nie existiert hatte und dass die Stimme, die Ferguson für die Stimme Gottes gehalten hatte, immer nur seine eigene Stimme gewesen war und er folglich nur Selbstgespräche geführt hatte.

"Ich glaube nicht mehr an Gott", schrieb Ferguson in einem Brief. "Jedenfalls nicht an den Gott des Judentums, der Christenheit oder irgendeiner anderen Religion. In der Bibel steht, Gott habe den Menschen nach seinem Ebenbild erschaffen. Aber die Bibel wurde von Menschen geschrieben. Und das bedeutet, der Mensch hat Gott nach seinem Ebenbild erschaffen. Und das bedeutet dann auch, Gott wacht nicht über uns, was Menschen denken oder fühlen, ist ihm schnurzegal. Wenn ihm irgendetwas an uns liegen würde, hätte er die Welt nicht mit so vielen schrecklichen Dingen darin erschaffen. Dann würden Menschen nicht Krieg führen und sich gegenseitig umbringen und Konzentrationslager bauen. Sie würden nicht lügen, betrügen, stehlen. Ich bestreite nicht, dass Gott die Welt erschaffen hat (denn ein Mensch war es bestimmt nicht!), aber nachdem er damit fertig war, hat er sich in die Atome und Moleküle des Universums verflüchtigt und uns verlassen, und jetzt müssen wir allein damit fertigwerden."

Gott ist grausam, Archie. Er sollte die guten Menschen auf der Welt beschützen, aber das tut er nicht. Er lässt sie genauso leiden wie die schlechten. Er tötet David Raskin, er brennt das Geschäft deines Vaters nieder, er lässt Unschuldige in Konzentrationslagern sterben, und dann heißt es, Gott sei gütig und barmherzig. Was für ein Witz.

Ich mag Geschichten, die zugeben, dass sie Geschichten sind, und nicht so tun, als wären sie die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr mir Gott helfe.

Ferguson war zu dem Schluss gekommen, dass er in einem auf den Kopf gestellten Universum voller endlos umkehrbarer Behauptungen lebte (Tag = Nacht, Hoffnung = Verzweiflung, Macht = Schwäche).

Die Welt ging nicht mehr bloß in die Binsen, die Welt hatte Feuer gefangen, und die Frage war: Was tun oder nicht tun, wenn die Welt brannte und man nicht die Ausrüstung besaß, die Flammen zu löschen, wenn es in einem selbst genauso brannte wie um einen herum und das eigene Handeln, ganz gleich was man tat oder nicht tat, nichts änderte?


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)