Zum 100. Geburtstag von Ludek Pachman

Die Mehrzahl der Bewohner Westeuropas lebt in der beruhigenden Überzeugung, dass nichts Besonderes los sei. [...] Tatsachen, die beweisen, dass Millionen Menschen im östlichen Teil Europas in Unfreiheit leben, sind natürlich bekannt – mit Ausnahme einiger hoffnungsloser Ignoranten können sie heutzutage von niemand mehr geleugnet werden. Aber nur ganz wenige Menschen sind hier und heute von diesen Tatsachen beunruhigt. Hauptsache, dass es hier anders ist, man kann sowieso nichts gegen diese Dinge tun, das ist die Überzeugung jener berüchtigten "schweigenden Mehrheit". Diese Überzeugung ist äußerst gefährlich. Es ist töricht, zu glauben, man könne die Freiheit eines Teils von Europa für immer dadurch sichern, dass man die Freiheit des anderen Teils opfert. Freiheit ist ein untrennbarer Begriff, allein deshalb schon, weil Unfreiheit aggressiven Charakter und die natürliche Tendenz hat, sich auszuweiten. Den Beweis dafür erbringen beispielsweise erst vierzig Jahre alte historische Erfahrungen. Damals wurde in einem Lande die Freiheit eines Teils seiner Bevölkerung liquidiert. Es wurden Demokraten, Sozialisten, Christen und vor allem Juden verfolgt. Dazu wurden unvorstellbar brutale Methoden angewandt, doch die Welt blieb gleichgültig. Es war schließlich die "innere Angelegenheit" eines Landes. Erst am Rande des Untergangs erkannte die Welt, dass es im Falle der Freiheit und der Menschenrechte keine "inneren Angelegenheiten" geben kann, dass Freiheit etwas Untrennbares ist und dass es ohne Freiheit auch keinen Frieden gibt. Es wäre beklagenswert, wenn die menschliche Gleichgültigkeit zur Wiederholung dieser tragischen Erfahrungen führen sollte [...].
Der osteuropäische Kommunismus verschleiert seine wahren Absichten in keiner Weise. Ja, er proklamiert ganz offen mit seiner These vom "sich verschärfenden ideologischen Kampf" seine Absicht, auch weiterhin einen unblutigen Krieg führen zu wollen, dessen Ziel die Veränderung der Verhältnisse im westlichen Teil des Kontinents ist, eine strukturelle Veränderung nach dem Muster der osteuropäischen Länder, verbunden mit der Expansion der sowjetischen Machtsphäre. [...]
Westeuropa ist heute ein Gebiet, das bar jeden eigenen Willens, jeder gemeinsamen Konzeption zu sein scheint. Die Ursachen dieser Ohnmacht liegen ausschließlich im psychologischen Bereich. Die in Wohlstand und persönlicher Freiheit lebenden Menschen verlieren jegliches Interesse an gesellschaftlichen Problemen, die Freiheit anderer und ihre eigene Zukunft scheint sie weniger zu interessieren als die letzten Modelle von Autos, Fernsehgeräten und Tiefkühltruhen. Die übermaterialisierte Zivilisation verliert ihr geistiges Rückgrat.
Es ist irrig und falsch, zu glauben, dass machtbesessene Menschen, sture Dogmatiker und perverse Gewalttäter die größte Gefahr für Freiheit und Fortschritt darstellen. Sie bilden in jeder Gesellschaftsordnung eine absolute Minorität. Die eigentliche Gefahr sind gleichgültige, apathische Menschen, weil sie leider immer in der absoluten Mehrzahl sind und durch ihr Schweigen schließlich die Tragödie für die gesamte Gesellschaft erst ermöglichen. Die russische Revolution der Bolschewiken entfachte einige Zehntausende aktiver und zu allem bereiter Menschen. Abermillionen verhielten sich passiv und begriffen erst, als es zu spät war, worum es eigentlich ging. [...]
Ich meine, dass im Augenblick keine Zeit zu stillen Meditationen da ist [...]. Es ist nicht unsere Sache, die Zeit auszuwählen, in der wir leben. Zu jeder Zeit ist das Leben ein Geschenk und gleichzeitig eine Verpflichtung. Jetzt ist es an der Zeit, um die Werte, die das Leben erst lebenswert machen, zu kämpfen, trotz zeitweiliger Niederlagen, trotz organisierten Hasses und Massengewalt, trotz Fanatismus Unwissender, trotz feiger Trägheit zahlreicher berühmt-berüchtigter Politiker, trotz Egoismus jener, die Besitztümer horten und für die Bedürfnisse des Menschen blind sind.
Quelle: Ludek Pachman, Gott läßt sich nicht verbannen. Freiburg i. Br. 1974.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)