Zum 100. Geburtstag von Johannes Mario Simmel

"Ihren Beruf möchte ich nicht haben", sagte ich böse zu dem Pfarrer. "Ja, es ist richtig, dass man unter der Last oft fast zusammenbricht", sagte er leise.
"Warum?" fragte ich. "Warum, Herr Pfarrer, lässt Ihr Gütiger Vater im Himmel so furchtbares Unglück zu? Vergessen wir die Hungersnöte, die Kriege, die Pestilenzen und Seuchen. Warum, Herr Pfarrer, lässt Ihr Gütiger Vater im Himmel überhaupt zu, dass es Hunderttausende und immer mehr und mehr Gehirnkrüppel, Spastiker und Epileptiker und Mongoloide und Gelähmte und Laller und Kretins gibt, die nicht sterben und nicht leben können? Warum, Herr Pfarrer, warum hat Gott sich in seiner Allmacht für dieses sein Verhalten zu allem anderen auch noch Kinder ausgesucht? Nach der Schrift ist Gott dreierlei: nämlich allwissend, allmächtig und allgütig. Bitte, unterbrechen Sie mich nicht! Da kann etwas mit der Heiligen Schrift nicht stimmen. Denn, wenn Sie erlauben, Ihr Gütiger Vater im Himmel kann nur zwei – höchstens zwei – von den drei Eigenschaften besitzen, die ich zitierte. Entweder ist er allwissend und allgütig. Dann kann er nicht allmächtig sein – sonst müsste er solches Elend verhindern. Oder er ist allgütig und allmächtig. Dann kann er nicht allwissend sein – sonst müsste er solches Elend verhindern. Oder aber Ihr Lieber Gott ist allwissend und allmächtig. Dann kann er, weiß der Himmel, nicht allgütig sein, wenn er derlei zulässt. Also was nun, Herr Pfarrer?"
Das sagte ich fünf Minuten, nachdem dieser junge Pfarrer – Hirtmann hieß er, Ernst Hirtmann, Protestant, und zu seinem Arbeitsgebiet gehörte auch die Betreuung des Sophienkrankenhauses –, nachdem Pfarrer Ernst Hirtmann Ruth gesagt hatte, dass der kleine Tim gestorben sei. Der kleine Tim war vor drei Stunden gestorben, Hirtmann war noch im Krankenhaus und bis zuletzt bei dem Kind gewesen. Danach hatte er versucht, die Eltern telefonisch zu erreichen. Tim war der Sohn eines wohlhabenden Industriellen. Die Eltern waren zu einer Party gefahren, die Haushälterin konnte Hirtmann nicht sagen, wohin. Er hatte der Haushälterin aufgetragen, die Eltern, wenn sie heimkämen, über den Tod ihres Sohnes zu informieren und ihnen mitzuteilen, sie könnten gleich in das Sophienkrankenhaus kommen, und wenn es sieben Uhr früh sei, hatte Hirtmann gesagt, er werde warten.
Ruth war zu Babs gerufen worden. Der Nachtarzt brauchte ihre Hilfe. Babs' Zustand hatte sich weiter verschlechtert. Ruth war fortgeeilt – und ich hatte mich neben Pfarrer Hirtmann auf eine Bank der leeren Halle gesetzt [...]
Pfarrer Ernst Hirtmann war ein Mann, der ruhig und langsam sprach, man sah, er überlegte jedes Wort. Häufig rückte er an seiner Brille. Auf meine Attacke antwortete Pfarrer Hirtmann so: "Was Sie hier anklagend vorgebracht haben, Herr Norton, ist nicht neu. Es ist die sogenannte 'Ausschließungsfrage'. Und ich muss Ihnen widersprechen: Sie ist biblisch nicht belegbar!"
"Doch!"
"Nein", sagte er still. "Glauben Sie mir, Herr Norton. Hier kenne ich mich besser aus. Das ist mein Beruf. Die 'Ausschließungsfrage' ist nicht exegetisch, sondern sie ist spekulativ. Gerade Spekulation aber sollte man bei einer so schlimmen Sache vermeiden. Jedoch: Etwas Logisches wird Ihnen hier kein Pfarrer der Welt bieten können. In keiner Rechnung geht Leid logisch auf! Trotzdem: Für mich ist die härteste Anklage gegen Gott frommer als das kultisch-routinierte Zudecken von Wunden. Gott als der Angeklagte, Herr Norton – das ist das christliche Thema!"
Ich sah ihn an.
Er erwiderte meinen Blick ernst. [...]
Hirtmann sprach weiter: "Was Sie da eben von den drei Eigenschaften Gottes sagten, Herr Norton, ist auf die scholastische Weise der Beschreibung göttlicher Eigenschaften bezogen. So hat ja auch wirklich – unglücklicherweise! – die Theologie Jahrhunderte hindurch gelehrt. Aber das ist nicht biblisch!" Er griff nach meiner Schulter und drehte meinen Kopf. "Ich möchte Ihr Gesicht sehen, wenn ich mit Ihnen spreche, Herr Norton, verzeihen Sie", sagte er freundlich.
"Verzeihen Sie, Herr Pfarrer."
"Und ich spreche im Moment mit Ihnen natürlich anders, als ich es später irgendwann mit Tims Eltern tun werde, oder auch anders, als ich es mit den Eltern eines Kindes tue, die Bauern oder Handwerker sind. Ich spreche mit jedem Menschen so, dass er mich verstehen kann. Sie können mich doch verstehen?"
Ich nickte.
"Nun, ich sagte, es sei nicht biblisch. Im Alten Testament ist von Gott als dem schaffenden, liebenden, strafenden, rächenden, eifernden – eben als von dem anthropomorphen Gott Jahwe die Rede. Sie werden nirgends ein System seiner Eigenschaften finden, Herr Norton! Die Klage ist so laut wie das Lob über ihn, die Erfahrungen mit ihm sind so positiv wie negativ. Klage und Lob – etwa in den Psalmen!"
"Wie interessant", sagte ich ironisch.
"Ich weiß, Sie finden es nicht interessant, Sie finden es wahrscheinlich langweilig", sagte Pfarrer Hirtmann. "Sie wollen Antwort auf Ihre Frage: Warum ist Babs, die niemals Böses getan hat, warum ist dieses unschuldige Kind auf eine so entsetzliche Weise ganz in die Nähe des Todes gekommen? Das ist es, was Sie wissen wollen."
"Ja", sagte ich. "Das und nichts anderes."
"Jeder Vater, dem so etwas widerfährt, will das und nichts anderes wissen. Und auch jede Mutter. Sie haben mich gefragt. Ich kann nicht in zwei Sätzen antworten. Ich möchte aber antworten und Ihnen vielleicht – vielleicht – etwas Trost geben. Wollen Sie mich reden lassen und mir zuhören – oder wollen Sie mich nur beschimpfen? Beides verstünde ich gleich gut. Was wollen Sie also?"
"Zuhören", sagte ich.
"Danke", sagte er und rückte an seiner Brille. "Ich spreche als evangelischer Theologe. Also: Von Gott weiß ich nur durch die Person Jesus Christus. Nur von seinem Verhalten weiß ich. Dabei beschäftigt mich das Problem des Leidens. Jesu Leiden war nicht das schlimmste Leiden, so grausam die Art seiner Hinrichtung auch war. Aber mittlerweile ist diese Grausamkeit tausendfach, hunderttausendfach, millionenfach überboten worden. In den KZs der Nazis. Bei der Ermordung von sechs Millionen Juden. In Stalins Lagern. In Korea. In Vietnam ... Bei Jesu Leiden aber, Herr Norton, geht es um die Konsequenz seines Lebens und Wollens. Und hier, Herr Norton, hier offenbart sich Gott als der Ohnmächtige! ... "
Und die sternklare, eiskalte Nacht lag um das Riesengebäude mit seinen vielen kranken, leidenden, sterbenden Kindern. Und ich saß da auf einer Bank in Nürnberg, wieder einmal irgendwo, irgendwo in der Welt.
"Ich habe Kinder begraben müssen", sagte Pfarrer Hirtmann, "viele Kinder – die meisten aus diesem Hause. Ich habe selber drei kleine Kinder, Herr Norton. Sie werden mir glauben, dass die 'Vorbereitung' auf ein solches Kinderbegräbnis anders aussieht, als wenn es gilt, einen Achtzigjährigen zu beerdigen."
"Kinder", sagte ich. "Bleiben wir bei den Kindern."
"Gewiss", sagte er. "Ich habe die Eltern dieser Kinder besucht, die hilflos und fassungslos waren – und ich war selbst fassungslos und hilflos ... " Er nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und sagte klanglos: "Aber, sehen Sie, das ist nun mein Beruf, und so liebe ich ihn: Wir können, wir dürfen nicht stumm und sprachlos sein! Wir haben etwas weiterzusagen, das wir nicht erfunden haben, und das Generationen im Leben und im Sterben geholfen hat."
"Und das ist?" fragte ich.
"Es ist dies: Wenn der Satz heißt, dass der, der aus unserer Hand ist, nicht aus Gottes Hand ist, und dass Christus den Tod hinter sich hat – so bedeutet das, dass uns das Leben aufgetragen ist, das Leben insbesondere in der unsentimentalen, selbstverständlichen Gemeinschaft mit den Leidenden. Darin lebt Christus. Und so kann ein Mensch leben ... Das genügt Ihnen nicht, wie?"
"Nein", sagte ich. "Das genügt mir nicht."
"Ich habe noch mehr zu sagen", fuhr er fort. "Diese Solidarität ist nicht etwas, das Christen für sich reklamieren dürfen. Es gibt so viele Menschen, die aus anderen Motivationen verstehen, helfen, mitleiden. Christen leben einfach nur in der Beziehung zu Christus, der die Menschen miteinander bekannt gemacht und verwandt gemacht hat – der sie einander verpflichtet hat!"
"Und auch das genügt mir nicht", sagte ich.
"Lassen Sie mich zu Ende sprechen", sagte er. "Ich denke so: Das Leiden eines Menschen ist eine Aufgabe ... ich wollte, ich fände ein besseres Wort! Das Leiden ist – subjektiv: ich weiß ein wenig davon – nicht etwas, das sinnvoll in ein System, in eine Theologie, in eine Ideologie zu integrieren wäre. Leiden, Schmerz – eigener und der um andere – ist Stigma unseres Menschseins. Ich weiß, das ist kein Trost. Aber Ehrlichkeit ist hier wichtiger als Balsam. Vor dem Leiden bin ich hilflos, und ich bin hilflos vor dem Leidenden, was die Worte, und sehr oft auch, was die Taten angeht. Ich bin auch im eigenen Leiden hilflos und erfahre doch von anderen, so gut sie es vermögen, Hilfe!"
"Ich will nicht ... "
"Noch einen Moment! Was ich jetzt sage, wird Ihnen helfen, da bin ich gewiss! Bezogen auf Christus bedeutet das alles: Er ist der, der den Leidenden beigestanden hat. Er ist der, der mitleidet und der gelitten hat. Er war und er ist bei denen, die ohnmächtig sind – als der Ohnmächtige!"
Ich sah diesen ernsten Mann plötzlich gebannt an.
"Jeder Pfarrer ist ohnmächtig", sagte Hirtmann, "wenn er hier eine Patentlösung geben soll. Trotzdem bin ich gerne Pfarrer, weil ich mit dem, was mir übergeben wurde, anderen beistehen kann. Ich vermag keine Theologie zu bieten, in der das schmerzvolle Schicksal eines Menschen aufginge. Und ich wollte auch nicht mehr Theologe sein, wenn aus solchen Schicksalen Theorien entstünden! Aber das kann ich – in vielen verschiedenen Formulierungen, je nach Art meines Gesprächspartners – sagen: Jede menschliche Vernunft wird bekräftigen, dass es kein Auferstehen von den Toten gibt. Wenn es keine Auferstehung von den Toten gibt, kann auch Jesus nicht auferstanden sein. Diese Logik setzt Paulus fort: Wenn Jesus nicht auferstanden ist, dann sind wir Prediger schmutzige Lügner! Dann ist die ganze Kirche ein einziger riesiger Volksbetrug! Die Kirchensteuer rausgeschmissenes Geld! Dann fragen wir zu Recht: Was haben wir eigentlich mit diesem galiläischen Wanderprediger zu tun, der seine Leute gegen die pharisäische Oberschicht aufbrachte und sodann geschnappt wurde?"
"Ja und?"
"Und diesen Abgrund von Sinnlosigkeit reißt Paulus auf – der übrigens, wie Sie vielleicht wissen, selbst ein körperlich Behinderter war! Nur vor dem Hintergrund der totalen Finsternis lässt sich überhaupt von Auferstehung reden. Gegenüber der völligen Hoffnungslosigkeit soll Freude laut werden – wird Freude laut!"
"Freude?"
"Ja. Weil Paulus gegen alle Argumente, gegen alle Zweifel diesen Satz als Tatsache hinstellt: 'Nun aber ist Christus von den Toten auferweckt worden!' Das Grab war leer, Herr Norton. Wir wissen nicht, ob es wirklich leer war. Es stand da kein Fotograf. Es ist keine historische Tatsache. Und trotzdem, Herr Norton, und trotzdem, und das ist der Trost, so hoffe ich: Wie erklären Sie, wie erklärt sich irgend jemand, dass damals immer mehr und mehr Leute behaupteten, das Grab sei leer gewesen, Christus sei auferstanden, er lebe wieder? Wie erklären Sie, dass dieselben Männer, die sich bei Jesus' Verhaftung in alle Mauselöcher verkrochen, um nicht mitgefangen und mitgehangen zu werden, dass diese selben Männer, und auch das ist historisch, nun plötzlich, fast möchte man sagen: strahlend, herumsprangen und den anderen zuriefen: Er ist auferstanden! Sieg auf der ganzen Linie! An diese Leute, an ihre Predigt, an ihre Motive können wir uns historisch halten! Mehr und mehr Menschen wurden von der Gegenwart des Auferstandenen überwältigt, sie gerieten in Bewegung, eine Welt geriet in Bewegung – fast zweitausend Jahre ist es her. Also: Wer Gott in seiner Ohnmacht trifft, der ist in Sicherheit! Er verzichtet auf den Platz im Bunker, denn er ist in Sicherheit! Jener Mann Christus, der im Recht war, ließ das Recht fahren. Er breitete seine Arme aus, um seine Feinde zu umfangen – und starb am Kreuz. Verhöhnt war die Gerechtigkeit Gottes, aber bewahrt war seine Treue: Denn aus dem Tod dieses Mannes stand lebendig die Macht des Vertrauens auf. Das Netz der Gefangenen zerriss. Durch das Gewebe der Paragraphen, durch versteinerte Überzeugungen hindurch blickte einer die Menschen an. Es kam der Mensch zum Vorschein, der das Glück für die anderen wollte, nicht das Recht für sich. Das modernste Raketenabwehrsystem macht meine Feinde nicht zu meinen Freunden. Erst wo das Misstrauen schwindet, beginnt die Abrüstung. Sie beginnt, wo einer sagt: 'In Deine Hände befehle ich meinen Geist! ...' Und dies: In jeder Klage ist die Hoffnung angelegt, aus der das große Vertrauen kommen kann. Der Klagende ist endlich geborgen dort, wo aus seinem Anspruch auf Glück und Gesundheit und Recht solches Vertrauen geworden ist ... " Hirtmann holte Atem. "Damit aber habe ich ausgeschlossen: erstens, jede Relativierung von Leid a la 'Anderen geht es noch schlimmer'; zweitens: jede fatalistische Erklärung a la 'Gott hat es so gewollt, es ist eine Prüfung'; drittens: jede kompensatorische Erklärung a la 'Es wird dir gelohnt werden – droben!'; und zuletzt die dümmste aller dieser 'Erklärungen', nämlich diese: 'Leiden ist Folge von Schuld'." Pfarrer Hirtmann senkte den Kopf, stützte ihn in die Hände und sagte, fast unhörbar: "Und trotzdem ist es furchtbar – jedesmal wieder aufs Neue."
(Quelle: Johannes Mario Simmel, Niemand ist eine Insel. München 1975.)


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)