"7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview
35. Folge: 7 Fragen an Ulrich Bröckling
anlässlich des Erscheinens seines Buches

Jede Woche erscheint eine Menge neuer für die Theologin und den Theologen interessanter Bücher – es ist schwierig, hier eine Auswahl für die eigene Lektüre zu treffen. Das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche möchte in Zukunft bei der Orientierung auf dem Feld der Neuerscheinungen hilfreich sein und hat deshalb eine neue Rubrik gestartet: "7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview.
In unregelmäßiger Folge werden bekannte und weniger bekannte Autoren von Neuerscheinungen gebeten, sieben Fragen zu beantworten – die ersten sechs Fragen sind immer gleich, die siebte und letzte ist eine individuelle Frage. Inspiriert ist die neue Rubrik von dem Autoren-Interview auf der Homepage des Transcript-Verlages.
In der 35. Folge werden die sieben Fragen erstmals von einem Nichttheologen beantwortet, dem Freiburger Soziologen Ulrich Bröckling. Gerade ist sein neues Buch Gute Hirten führen sanft – Über Menschenregierungskünste erschienen.

1. "Bücher, die die Welt nicht braucht." Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?

Mit dieser doppelten Verneinung gestellt, lässt sich die Frage ganz kurz beantworten: Es gibt gewiss Dringlicheres, das die Welt braucht, als weitere Bücher; das trifft auch auf dieses zu.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?

Es untersucht zeitgenössische Formen der Menschenführung, die nicht auf Disziplin und Kontrolle, sondern auf die Stärkung von Selbststeuerungspotenzialen, auf freiwillige Mitwirkung, personale Bindungen, den zwanglosen Zwang des besseren Arguments oder ökonomische Anreize setzen. Analysiert werden - unter anderem - Konzepte wie Prävention und Resilienz, Verfahren wie Mediation oder Strategien des Nudging.

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen theologischen und kirchlichen Debatten zu?

In diesen Debatten kenne ich mich nicht aus. Das Buch versammelt soziologische Essays, die vielleicht helfen können, auch die Machtpraktiken kirchlicher Hirten kritisch zu analysieren.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten einmal diskutieren?

Mit Michel Foucault, dessen Genealogie der modernen Gouvernementalität die in dem Band zusammengestellten Essays viel verdanken.

5. Ihr Buch in einem Satz:

Zeitgenössisches Regieren bedeutet nicht länger, Sicherheit zu gewährleisten, sondern Unsicherheiten zu managen.

6. Sie dürfen fünf Bücher auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen. Für welche Bücher entscheiden Sie sich?

Miguel de Cervantes, Don Quichote
Günther Anders, Ketzereien
Italo Calvino, Die unsichtbaren Städte
Denis Diderot, Jacques, der Fatalist
und ein Notizbuch samt Bleistift

7. Die siebte Frage stammt von Hans-Joachim Sander, Theologe an der Universität Salzburg: Ihr Buch untersucht, so sagen Sie, die Hirte-Herde-Metaphorik, aus der gegenwärtig eine ganze Reihe von Menschenregierungskünsten mit den entsprechenden Subjektivierungstaktiken resultiert. Theologisch folgt der Hirt-Herde-Komplex ja keiner Metaphorik, sondern einer Metonymie-Taktik, weil der gute Hirt direkt eine Titulatur Jesu ist (Joh 10,11). Die Metonymie des guten Hirten trägt keine übergeordnete Verhaltens- und Subjektivierungskonzeptionen aus, sondern steht als pars pro toto für dessen Hinrichtung am Kreuz, aus der ein alternatives Heil für alle und jede(n) Einzelne(n) resultiert. Dieser Hirt scheitert unweigerlich. Der bezahlte Knecht dagegen, so heißt es dort, wird die Herde der Schafe fliehen, wenn der Wolf kommt; er muss nicht scheitern, sondern darf gehen (wenn auch ohne Abfindung). Der Hirt, der am Ort des Kreuzes sein Leben „für die Schafe“ (Joh 10,11) hingibt, ermächtigt aus der Ohnmacht heraus und kann deshalb insbesondere mit gegenwärtigen Zerstörungsorten menschlicher Würde verbunden werden. Welchen Orten würden Sie dem gegenüber die von Ihnen untersuchte Hirte-Herde-Metaphorik zuordnen, deren Menschenregierungskünste in Kapitalien einlösbar sind und nicht scheitern müssen?

Ich bin kein Theologe, aber selbstverständlich ist auch die Bezeichnung Jesu als guter Hirte metaphorisch. Christen sind schließlich keine Schafe, doch die Metaphorik vom Hirten und seiner Herde legt ihnen nahe, sich so zu verstehen. In der frühchristlichen Theologie, prominent in der Pastoralregel des Gregor von Nazianz, wird die aus dem antiken Orient stammende Hirtenmetapher aufgegriffen und radikalisiert, um einen entgrenzten Gehorsam einzufordern, der auf Dauer gestellt wird, alle Lebensbereiche einschließt und nicht länger Mittel ist, sondern Zweck an sich. Mit dem christlichen Pastorat entsteht eine neue Machtform, die sich grundlegend von politischer Herrschaft unterscheidet: eine subjektivierende Macht, welche die Menschen zur Suche nach ihrer Wahrheit verpflichtet, eine ökonomische Macht, die auf das Heil der Seelen gerichtet ist und minutiös individuelle Stärken wie Schwächen erfasst, eine kontinuierliche und ausgreifende Macht, die den Einzelnen nicht von der Seite weicht, sich für jede ihrer Regungen interessiert und Fügsamkeit noch in den geringsten Verrichtungen fordert. Die Menschenregierungskünste der Gegenwart hat Nietzsche treffend auf die Formel "Kein Hirt und eine Herde" gebracht. In dem Maße, wie wir zur Selbstführung angehalten werden und uns selbst dazu anhalten, verinnerlichen wir die Instanz des Hirten: Wir brauchen ihn nicht mehr, weil wir ohnehin schon wollen, was wir sollen.


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)