"7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview
20. Folge: 7 Fragen an Martin Kirschner

Jede Woche erscheint eine Menge neuer für die Theologin und den Theologen interessanter Bücher – es ist schwierig, hier eine Auswahl für die eigene Lektüre zu treffen. Das Münsteraner Forum für Theologie und Kirche möchte in Zukunft bei der Orientierung auf dem Feld der Neuerscheinungen hilfreich sein und hat deshalb eine neue Rubrik gestartet: "7 Fragen an ..." – Das MFThK-Kurzinterview.
In unregelmäßiger Folge werden bekannte und weniger bekannte Autoren von Neuerscheinungen gebeten, sieben Fragen zu beantworten – die ersten sechs Fragen sind immer gleich, die siebte und letzte ist eine individuelle Frage. Inspiriert ist die neue Rubrik von dem Autoren-Interview auf der Homepage des Transcript-Verlages.
Die Fragen des 20. MFThK-Kurzinterviews beantwortet der Tübinger Theologe Martin Kirschner. Gerade ist seine von Peter Hünermann betreute Habilitationsschrift Gott - größer als gedacht. Die Transformation der Vernunft aus der Begegnung mit Gott bei Anselm von Canterbury erschienen.

1. "Bücher, die die Welt nicht braucht." Warum trifft das auf Ihr Buch nicht zu?

Gott ist der faszinierendste Gedanke des Menschen. Jedenfalls dann, wenn jemand ahnt, dass dieser Gott nicht nur ein Gedanke ist, sondern eine abgründige Wirklichkeit, die mich kennt, ruft, ja mein Fragen, eigenständiges Wollen, meine Freiheit trägt. Um das merken zu können, muss man Vorurteile und Denkgewohnheiten korrigieren, die prägen wie wir denken, was wir für rational, für möglich und wirklich halten. Das Buch will eine Anleitung zu solchem Umdenken sein und es geht dazu bei einem mittelalterlichen Mönch, einem Gelehrten und Seelsorger, einem Bischof und rationalen Mystiker in die Schule, der zu solchem Umdenken in begrifflicher Klarheit und in einer affektiv-poetischen Sprache hinführt: Anselm von Canterbury. Heute sind Vernunft und Wissenschaft oft abgespalten von Spiritualität, Erfahrung, Affekten: dann stehen blutleere und lebensferne Konstruktionen gegen irrational-unkritische Spiritualitäten - zum Schaden von beiden. Mein Buch will beide Seiten verbinden (und zeigt nebenher, wie beides bei einem Denker des ach so finsteren Mittelalters ineinander greifen konnte). Es verlangt allerdings eine Anstrengung des Begriffs und in dieser Anstrengung dann auch noch die Bereitschaft zum anders Denken und zum Loslassen der Begriffe - so dass vielleicht Begegnung mit dem lebendigen Gott sich ereignen kann, der größer ist als gedacht.

2. Welche neuen Perspektiven eröffnet Ihr Buch?

Ich lese Anselm dreifach und greife dabei drei leitende Rationalitätsformen der Gegenwartsphilosophie auf, die - in Philosophie und Theologie - oft unverbunden nebeneinander stehen: begrifflich-schlussfolgerndes Denken, das scheinbar unabhängig davon funktioniert, wer da denkt; ein transzendental gewendetes Denken, das vom Subjekt in seiner Freiheit und Verantwortung ausgeht und den Denkenden selbst beansprucht; ein existentiell gewendetes, empfangendes Denken, das sich der Vor-Gaben seiner Freiheit bewusst wird und der Dynamik der Sehnsucht folgt, die theoretische wie praktische Vernunft überhaupt in Bewegung hält. Mit der Denkform ändert sich der Gebrauch von Sprache: von klaren und deutlichen Begriffen mit notwendigen Schlüssen hin zu transzendentalpragmatischen Begründungsfiguren unbedingter Geltungsansprüche und Postulaten der Hoffnung, hin zu einer paradoxalen, poetischen und metaphorischen Sprache, die dem Sinnüberschuss der Gottesspuren Raum gibt und bezeugt, was nicht eindeutig bestimmt werden kann.
Diese Übergänge zeichne ich an Anselms Philosophie bzw. Theologie (die scharfe Trennung von beiden bleibt problematisch) nach und mache dabei deutlich, wie sich der Schwerpunkt seiner Theologie verlagert: von der Gottesfrage zur Freiheit des Menschen, die auf Gott ausgerichtet ist; von dort zur Einsicht der aporetischen Selbstverstrickung der Freiheit, die je schon mit ihrer Ausrichtung auf das Gute und Wahre gebrochen hat und nicht mehr tun kann wozu sie geschaffen ist; schließlich zur tastenden Annäherung an das Ereignis einer Liebe und Gabe, die jedes Maß (auch das der Schuld und des Geschuldeten) unendlich übersteigt und die Verstrickung löst - allerdings unter der Voraussetzung, dass ein Ereignis wirklich stattgefunden hat: die Selbsthingabe des Gott-Menschen Jesus Christus. Die Logik begrifflicher Notwendigkeit (wer "a" sagt muss auch "b" sagen) und die Logik des Geschuldeten (Freiheit muss sich selbst, der Freiheit der Anderen und Gott entsprechen / genüge tun, um gerecht zu sein) werden hier überschritten aus einer Logik der Liebe und des Übermaßes, in der Gott und Mensch in Jesus (ungetrennt und unvermischt) sich ganz für uns hin-gibt über alles was wir verdient hätten oder fordern könnten hinaus.
Neue Perspektiven stecken da einige drin - die ich selbst zum Teil erst angedacht und angedeutet habe, und bei denen ich auf kreative und kritische Leserinnen und Leser hoffe, die den Faden aufgreifen. Vier Beispiele mit Bezug zu aktuellen Debatten:

3. Welche Bedeutung kommt dem Thema in aktuellen theologischen und kirchlichen Debatten zu?

1. Die Studie widerspricht (mit wichtigen Vertretern der neueren Anselmforschung, z.B. Michel Corbin) immer noch festsitzenden Klischees über Anselm, die man ein wenig karikierend zusammenfassen kann: Anselm sei ein Rationalist, der dann in der Auslegung von Karl Barth zum Fideisten wird, der Gottes Existenz zuerst rationalistisch aus dem Begriff Gottes ableitet (quo maius cogitari nequit), um dann einem irrationalen Mystizismus zu verfallen und Gott dem Denken als unbegreiflich entgegenzustellen (maius quam cogitari possit); er sei ein Denker der Freiheit, der sie aber in den Rahmen einer feudalen Lehnsordnung presst, sie dann unter der Last der paulinisch-augustinischen (Erb-)Sündenlehre zusammenbrechen lässt, um schließlich als "Erlösung des Menschen" das blutrünstige Opfer des Gottessohnes aus dem Hut zu zaubern, an dem Gott-Vater als beleidigter Patriarch im Himmel seine Laune kühlt ... Ein solches Konglomerat widersprüchlicher Aussagen prägt die Anselmkritik bis heute und spukt durch die philosophische, theologische und kirchliche Debatte, besonders wenn es um den sogenannten "ontologischen Gottesbeweis", um die sogenannte "Satisfaktionstheorie" und um die Kritik kirchlicher Opferspiritualität geht. Wer wissen will, warum ich diese Aussagen für falsch oder mindestens schief (also halbwahr und verzeichnend) halte, kann ja mal in das Buch reinschauen.
2. In theologischen und philosophischen Debatten versucht das Buch - an Anselms "rationaler Mystik" und gemäß seinem Grundsatz "fides quaerens intellectum" - Übergänge zwischen Denkformen und Rationalitätstypen aufzuzeigen: klassisch metaphysische und scholastische Ansätze bei klaren Begriffen in logischer Verknüpfung und ihre nachmetaphysischen Erben in der analytischen Philosophie; freiheitstheoretische, transzendentallogische, bewusstseinstheoretische oder transzendentalpragmatische Ansätze geltungstheoretischer Begründung; phänomenologische, hermeneutische, diskursanalytische, differenztheoretische ... Ansätze spätmoderner und kontextueller Theologien. Der Versuch hier Brücken zu schlagen, an Anselm Übergänge aufzuzeigen und diese Übergänge als einen je neu zu durchlaufenden Prozess vertiefender Erkenntnis aufzufassen, scheint mir ebenso riskant wie notwendig. Das Buch will Anstoß sein, diese Debatte zu führen (und gerne besser als ich es konnte ...) und im Streit der Schulen und Ansätze die Theologie je neu und radikaler auf ihren "Gegenstand" (also Gott und den Menschen) auszurichten.
3. Ich habe den Eindruck, dass die Theologie und die Glaubenspraxis dringend ein "Ressourcement" brauchen, eine Auffrischung aus den Quellen der Bibel, der spirituellen und theologischen Tradition, aus Liturgie und Gebetssprache. Dabei besteht aber die Gefahr vormoderne Traditionen und/oder postmoderne Inszenierungen gegen die Moderne auszuspielen, statt durch die Reflexionsprozesse der Aufklärung und ihr Problemniveau hindurch diese zu radikalisieren. Anselms Theologie kann hier vielleicht eine Brücke sein: Er schöpft aus monastisch-liturgisch verinnerlichter Schriftmeditation (vor allem die Psalmen und Paulus), aus der Theologie des Augustinus und aus der benediktinischen Lebensform, aber er ist dabei ein konsequenter Denker der Freiheit, der in Vielem Kant vorwegnimmt. Er führt diese Freiheit "radikal" auf ihre Wurzeln zurück und zeigt unerbittlich die Aporien ihrer Verstrickung auf und wird dadurch zu einem Denker der Gnade, der Gabe über jedes Maß und der "unmöglichen Möglichkeit" einer durch Liebe erlösten Freiheit, die im Paradox des Gott-Menschen gründet. Damit scheint mir der Sache nach eine Brücke zwischen vormodernen, modernen und spätmodernen Diskursarten, ja Lebensformen und Spiritualitäten möglich. Auch das eine gewagte These - die bitte kritisch geprüft werden mag ...
4. Wenn Papst Franziskus die Barmherzigkeit zum Dreh- und Angelpunkt des Glaubens, der Pastoral und Lebensformen, der Gestalt von Kirche macht, dann ist es wohl theologisch zentral aufzuzeigen, dass Gottes größere Barmherzigkeit seiner Gerechtigkeit nicht widerspricht, dass die Großzügigkeit der Liebe die Ordnung, die Pflicht und das Gott und den Mitmenschen Geschuldete nicht zerstört, sondern erfüllt und befreit. Keine billige Gnade also, sondern eine Intensivform von Leben, in dem Gesetz und Evangelium, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sich gegenseitig erschließen und fördern. Anselm zeigt, dass dabei das Heil des Menschen auf dem Spiel steht - und die Göttlichkeit ("Ehre") Gottes: ob Gott selbst überhaupt widerspruchsfrei gedacht werden kann und so, dass sein Schöpfungs- und Heilswille nicht in Selbstwiderspruch und letzte Absurdität münden.

4. Mit wem würden Sie Ihr Buch am liebsten einmal diskutieren?

Wenn ich theologisch und argumentativ gut in Form wäre: Ingolf U. Dalferth, Hansjürgen Verweyen, Michel Corbin, Thomas Pröpper, Magnus Striet,...
Wenn Zeit keine Rolle spielen würde: mit Ihnen.
Wenn Zeit gar keine Rolle mehr spielt: Karl Barth, Hans Urs von Balthasar, Henri de Lubac, Charles Hartshorne, Johann Adam Möhler, Anselm von Canterbury,...

5. Ihr Buch in einem Satz:

Gott ist größer als gedacht und in Jesus Christus hat sich eine Liebe ereignet, wie sie größer nicht gedacht werden kann: Anselm zeigt auf dem Weg eines Glaubens, der denkend zu verstehen sucht, wie in dem Maß jemand dies anfängt nachzuvollziehen, er/sie in seinem ganzen Lebensvollzug (denkend, wollend, handelnd, leidend, liebend, sterbend ...) in diese "Logik der Liebe" hineingezogen und verwandelt wird … in einem unabgeschlossenen, je neu zu durchlaufenden Prozess mit offenem Ausgang.

6. Sie dürfen fünf Bücher auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen. Für welche Bücher entscheiden Sie sich?

Die Bibel, Rilkes Gedichte, Goethes Faust, Augustins Confessiones ... und zur Entspannung Tolkiens Herrn der Ringe.

7. Nach der Beantwortung der ersten sechs Fragen wurde der Freiburger Fundamentaltheologe Hansjürgen Verweyen gebeten, die siebte Frage zu formulieren:
Anselm betont zu Recht, daß die rationale Verantwortung des Glaubens von diesem selbst auszugehen hat. Diesen Glauben versteht er (auch) als unverbrüchliches Festhalten an von der kirchlichen Autorität Vorgegebenem. Nun entpuppt sich in der Diskussion mit Andersdenkenden manches an dieser Vorgabe als korrekturbedürftig. Wie soll man mit diesem Problem umgehen?

Der Glaube und die Theologie stehen da in einer grundsätzlichen Spannung: einerseits muss der Glaube am kirchlich vorgegeben Glaubensverständnis Maß nehmen, um nicht einfach die eigene Sicht zu wiederholen; andererseits darf er keinen Einsichten, Erfahrungen, Argumenten ausweichen (bei Andersdenkenden, aber auch beim eigenen Andersdenken!). Die Spannung führt in einen Lernprozess (fides quaerens intellectum ...), der Zeit und Geduld braucht und oft nicht glatt aufgeht (völlige Kohärenz, Transparenz auf die Lebenserfahrungen, versöhnte Wahrheit bleibt eine eschatologische Hoffnung). Fundamentalismus wäre dagegen ein ungeduldiger Kurzschluss, der Gottes größerer Wahrheit nicht wirklich traut. Für den spannungsreichen Lernprozess, in dem der Glaube auf dem Weg bleibt und reift, sehe ich dann drei wichtige Momente, die sich gegenseitig ergänzen und korrigieren: 1. Das rationale Potential der Glaubensaussagen geduldig und immer tiefer herauszuarbeiten - auch dort, wo man Aussagen lieber zur Seite wischen würde oder für unsinnig hält. (Das kann man bei Anselm großartig lernen.) 2. Den Glauben als geschichtlichen Prozess zu verstehen: die Glaubensaussagen historisch-kritisch einzuordnen, in ihrem Kontext auszulegen, mit Widersprüchen, Lern- und Umkehrprozessen zu rechnen. (Das war nicht Anselms Stärke - da wären Abaelard, Heloise und der Paraklet wohl der "andere Ort", um Anselms Ansatz gegenzulesen.) 3. Schließlich gibt es Situationen, wo man - unabgeschlossener Lernprozess hin oder her - für das einstehen muss, was man erkannt hat. Wenn Gottes Wahrheit, die Würde von Menschen oder der gerechte Umgang mit Menschen auf dem Spiel steht, kann geduldiges Lernen auch eine Flucht vor der Verantwortung sein - und dann ist Zeugnis auf eigenes Risiko gefordert. Wo so etwas geschieht, habe ich großen Respekt davor - und frage mich, ob ich in solchen Situationen die Freiheit und den Mut finde, um für das Notwendige einzustehen. (Anselm ist da indirekt hilfreich, weil er sozusagen ein monastisches Übungsprogramm verfolgt, um in die innere Freiheit zu finden, die solches Zeugnis ermöglicht.)


Münsteraner Forum für Theologie und Kirche (MFThK)